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Das Gebäude in der Turmstraße 20 in Wetzlar wirkt zwar durchaus imposant, doch von außen lässt sich kaum erahnen, was für ein Reichtum sich im Inneren verbirgt. Lediglich zwei Drachen an der Fassade und auf dem Balkon über der Eingangstür lassen geben einen Hinweis darauf, was die Besucher erwartet. Die eher unscheinbare Doppeltür führt gleichzeitig nach Narnia, nach Mittelerde, auf den Todesstern und auch nach Hogwarts. Alles auf einmal? Richtig, denn in dem Gebäude befindet sich die Phantastische Bibliothek Wetzlar.

Nie gehört? Nun, dann haben Sie definitiv etwas verpasst. Mit über 300.000 Büchern auf fünf Etagen ist die von einer gemeinnützigen Stiftung getragene Phantastische Bibliothek Wetzlar die weltweit größte öffentlich zugängliche Sammlung an phantastischer Literatur. Sie denken jetzt: „Na ja, Fantasy ist nicht mein Ding?“ Dann lassen Sie sich eins gesagt sein: Ganz sicher findet sich in der Phantastischen Bibliothek auch ein Buch, das Sie gelesen haben. Oder auch zwei, oder drei.

Die Grenzen der phantastischen Literatur sind fließend

Schrecklich schaurig wird es in der Ecke mit Horrorliteratur.
Schrecklich schaurig wird es in der Ecke mit Horrorliteratur. © Sabine Glinke

„Die Grenzen der Phantastischen Literatur sind fließend“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Maren Bonacker, die vor fast zwei Jahren die bibliothekarische Leitung von ihrer Vorgängerin Bettina Twrsnick übernommen hat. „Viele Leute laufen hier durch und stellen dann etwa die Frage: Warum steht hier Shakespeare?“ Die Antwort sei einfach: „Unter phantastische Literatur fällt alles, in dem Übernatürliches, Übersinnliches,
eben etwas jenseits der eigentlichen Realität vorkommt“. Shakespeares „Sommernachtstraum“ handelt von Elfen, Feen und anderen Fabelwesen und ist somit ganz klar als phantastische Literatur zu werten“. Ja, es gebe einige Grenzfälle – die Abteilung mit Reise- und Abenteuerliteratur etwa. „Teils sind da nur die Länder, über die erzählt wird, erfunden“. Nicht alles ist also so klar der Phantastik zuzuordnen wie etwa die Erzählungen von Jules Verne, dem gleich eine ganze Abteilung gewidmet ist oder Douglas Adams’ Klassiker „Per Anhalter durch die Galaxis“. Denn die 300.000 Bücher, die in der Turmstraße zu finden sind, sind bei weitem nicht alle, die die Phantastische Bibliothek zu bieten hat – es gibt noch einen ausgelagerten Standort, der als Magazin fungiert. Der Bestand ist nicht umsonst so groß, denn durch die fließenden Übergänge des Genres ist die Sammlung sehr vielseitig. Einige Beispiele, was neben der tatsächlichen Fantasy alles unter phantastische Literatur fällt, zeigt, wie breit die Bibliothek aufgestellt ist: Da ist Horror dabei, Grusel, Science-Fiction, Werke aus dem Steam Punk, Märchen aus aller Welt, Sagen, aber auch Utopien oder Dystopien, etwa George Orwells berühmtes „1984“ oder die „Tribute von Panem“-Reihe. Auch einige Sachbücher gibt es, die sich etwa mit Ufos oder übersinnlichen Phänomenen befassen. Hier soll aus Platzgründen etwas ausgedünnt werden, denn: „Diese Bücher werden kaum noch ausgeliehen. Wer heute etwas zu Ufos nachlesen will, schaut wohl eher ins Internet“, weiß Bonacker.

Von „Warrior Cats“ bis Perry Rhodan

Im Bilderbuchcafé werden die Kleinsten spielerisch ans Lesen herangeführt.
Im Bilderbuchcafé werden die Kleinsten spielerisch ans Lesen herangeführt. © Sabine Glinke

Dafür findet die erzählende phantastische Literatur umso mehr Anklang bei Jung und Alt. Denn neben Büchern für Erwachsene gibt es auch jede Menge Lesestoff für Kinder und Jugendliche, darunter natürlich auch die sehr beliebten „Warrior Cats“ vom Autorenteam Erin Hunter, Margit Auers „Die Schule der magischen Tiere“ oder noch recht junge Genres wie die Romantasy, unter die etwa die „Biss“-Trilogie fällt. Entsprechend wird die Phantastische Bibliothek gerne auch von Familien benutzt – nicht nur zum Lesen, sondern auch zum begleiteten Spielen. Bonacker berichtet auch von besonderen, phantasievollen Familien, die verkleidet kommen und den gelesenen Stoff für sich erlebbar machen. Beliebter Treffpunkt ist das Bilderbuchcafé, das mit seinen gemütlichen Spielecken und dem kuscheligen Sofa zum Verweilen einlädt. Überhaupt fällt auf, dass die Bibliothek sehr detailreich dekoriert und gestaltet ist – am Regal mit den Vampirgeschichten baumelt Knoblauch, in der Star-Wars-Ecke wartet Chewbacca als Pappaufsteller, es gibt Regale, die eine Ritterburg darstellen, immer wieder laden kuschelige Leseecken zum Verweilen und Schmökern ein. Höhepunkt: Die große Perry-Rhodan-Sammlung, in Buchform und auch als Groschenheft erhältlich, wird mit einer Sitzgruppe und einem Eingangstor gewürdigt, die komplett aus Rhodan-Büchern gebaut wurden. Klar ist: In der phantastischen Bibliothek regiert die Liebe zum Detail. Das Lesen wird dadurch zu einem Fest für alle Sinne.

Eine wertvolle Sammlung sind die Märchen aus 1001 Nacht.
Eine wertvolle Sammlung sind die Märchen aus 1001 Nacht: Hier nennt die Phantastische Bibliothek Originalausgaben ihr Eigen. © Sabine Glinke
Das Thema dieses Raumes dürfte unmissverständlich klar sein.
Das Thema dieses Raumes dürfte unmissverständlich klar sein. © Sabine Glinke

„Anfassen, in die Hand nehmen, all das ist bei uns erlaubt und auch erwünscht“, sagt Maren Bonacker mit Blick auf eine Klappleiter, die neben dem Märchenthron steht: „Manchmal muss man auch aktiv werden und klettern, um an das gewünschte Buch heranzukommen“. Stolz ist man auch auf die Abteilung mit den „Märchen aus 1001 Nacht“ – hier stehen wertvolle Originalausgaben.

Na, um welches Thema könnte es hier wohl gehen?
Na, um welches Thema könnte es hier wohl gehen? © Sabine Glinke

Weitere Besonderheit: In der Phantastischen Bibliothek sind die Bücher zunächst einmal nach Themen und Protagonisten sortiert. Innerhalb der Kategorien stehen sie, wie in Bibliotheken üblich, in alphabetischer Reihenfolge nach Autorennamen. Die Kategorien sind eindeutig den Interessen zugeordnet: Vampire gibt es da, Monster, Zombies oder Zauberer. Die Bilderbücher für die kleineren Kinder sind nach Tieren sortiert: Eulen, Hasen, Katzen, Hunde. Geschichten mit sprechenden Tieren: Ganz klar phantastische Literatur.


Von gemeinnütziger Stiftung getragen

Der Sammlungsaufbau wurde 1987 begonnen. Damals richtete Thomas LeBlanc die Tagung „Wetzlarer Tage der Phantastik“ aus. Dabei entstand die Idee, eine eigene Sammlung phantastischer Literatur der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich zu machen. Zunächst von der Stadt Wetzlar und einem Förderverein betrieben, wurde die Sammlung Anfang 2006 von einer gemeinnützigen Trägerstiftung mit privatem Kapital übernommen. Im Laufe der Jahre wuchs der Bestand der Sammlung mehr und mehr – vor allem durch private Spenden. Ab 1989 zunächst als Provisorium am Domplatz 7 angesiedelt, zog die stetig wachsende Bibliothek 1996 in eine ehemalige Druckerei an den Friedrich-Ebert-Platz und 2006 schließlich ins ehemalige Staatsbauamt in der Turmstraße.

Hier liest es sich königlich!
Hier liest es sich königlich! © Sabine Glinke

Die Phantastische Bibliothek hat Nutzerinnen und Nutzer in ganz Europa. Und nicht nur Lesen und Ausleihen spielt hier eine Rolle: Die Bibliothek versteht sich als Kultur-, Wissenschafts- und Bildungszentrum, arbeitet als Forschungsbibliothek mit angeschlossener Akademie, die von Wissenschaftlern und Kulturinteressierten aus ganz Europa genutzt wird. Sie veranstaltet Symposien, Seminare, Vortragsreihen zu literarischen wie interdisziplinär verbundenen naturwissenschaftlichen, politischen und historischen Themen, sie publiziert eine wissenschaftliche und eine pädagogische Schriftenreihe. Außerdem ist sie regional in der Lehrerfortbildung im Bereich Lesen/Literatur/Sprache tätig und entwickelt Leseförderprojekte. Wenn Corona keinen Strich durch die Rechnung macht, gibt es hier auch regelmäßig Lesungen wie die beliebten „Märchen am Dienstag“, (die im laufenden Jahr wohl auf den Mittwoch umziehen werden). Führungen oder spannende Rallyes sind für Schulklassen aller Altersstufen möglich. Das in Kooperation mit der Stadtbibliothek und dem Jugendamt der Stadt Wetzlar stattfindende Projekt „Wetzlar liest – von Anfang an und überall“ bringt das Thema Lesen in die heimischen Kindertagesstätten und wurde 2020 mit dem Deutschen Lesepreis der Stiftung Lesen ausgezeichnet.


„Wundertüten“ gegen Corona

Auch für die Corona-Zeit hat man sich etwas überlegt: Eine kontaktfreie Buchausleihe, gestaltet als „Wundertüte“. Der Leser gibt am Telefon oder per E-Mail ein Wunsch-Thema oder ein Lieblingsbuch vor, das Bibliotheksteam packt eine Wundertüte und liefert diese kontaktfrei an die Haustür in der Turmstraße. Diese „Wundertüte“ kann man dann wie die regulär ausgeliehenen Medien für vier Wochen behalten und auch einmal um weitere vier Wochen verlängern. Auch ist es möglich, sich ein konkretes Buch zu wünschen. „Wir haben das inklusive kontaktloser Übergabe für Menschen konzipiert, die wegen Corona noch Angst haben, wieder zu uns zu kommen, bleiben aber auch bei Lockdowns nah an den Menschen“, erklärt Maren Bonacker. Lieber ist es ihr jedoch, wenn die Phantastische Bibliothek geöffnet bleiben kann – 2G macht es aktuell möglich, dass man auch selber in den Regalen stöbern kann. Wer Bücher ausleihen möchte, muss sich einmalig mit Personalausweis registrieren, einen Leseausweis gibt es nicht. Die Registrierung und die Ausleihe sind kostenlos.

Infos & Kontakt

Corona-bedingt hat die Phantastische Bibliothek noch bis zum 9. Januar geschlossen. Abholtermine können telefonisch unter 06441-40010 vereinbart werden. Die Öffnungszeiten sind ansonsten Montag bis Donnerstag von 14 bis 17 Uhr. Internet: www.phantastik.eu